Heute vor 70 Jahren marschieren die Amerikaner in Datteln ein. Zeitzeugin
Gertrud Ritter erinnert sich. Theo Beckmann dokumentiert die Geschichte.
von Ingrid Wolf, Dattelner Morgenpost, 02.04.2015
DATTELN. Am Ostermontag, 2. April, 1945 war der Zweite Weltkrieg in Datteln zu
Ende. Die Amerikaner marschierten von Westen in die Stadt ein. Die Amerikaner
marschierten von Westen in die Stadt ein. Ein Tag, den viele als Befreiung
empfanden, und der in Datteln ohne große Kämpfe vorüberging. Für Gertrud
Ritter, ehemalige Vorsitzende des Heimatvereins, wird die Erinnerung an diesen
Tag allerdings von einem tragischen Ereignis in der unmittelbaren
Nachbarschaft überschattet.
Kurz vor Kriegsende zerstörten die Deutschen alle Kanalbrücken, um die
alliierten Truppen aufzuhalten. Auch die Brücke über den Dortmund-Ems-Kanal.
Foto: Privat
Die damals 18-Jährige wohnte mit ihren Eltern am Becklemer Weg. Sie hat noch
die Bilder vor Augen, wie an den Tagen vor dem Osterfest die Westfront immer
näher rückte, wie kange Kolonnen deutscher Soldaten müde und abgekämpft die
Recklinghäuser Straße Richtung Osten entlang marschierten.
Darunter war auch Werner Breit, der Sohn von Gertrud Ritters Nachbarn. Er
nutzte die Gelegenheit, entfernte sich von der Truppe und schlug sich
unbemerkt bis zu seinem Elternhaus am Becklemer Weg durch. „Als Ostermontag
mittags der erste amerikanische Panzer auf der Dortmunder Straße gesichtet
wurde, wollte Werner Breit – wie viele Anwohner auch – die weiße Fahne ins
Fenster hängen“, sagt Gertrud Ritter.
In dem Moment schlug eine Granate ein, die von deutschen Soldaten, die sich in
einem Wald hinter dem Rhein-Herne-Kanal verschanzt hatten, abgefeuert worden
war. Werner Breit war schwer verletzt. „Ich konnte die Schreie aus der
Nachbarwohnung hören“, sagt Gertrud Ritter.
Jetzt war die Not groß. Der Verwundete wurde in den Keller gebracht – von
Nachbarn versorgt. Es gab keinen Arzt mehr in der Nähe. Erst später konnte er
zum Schwesternhaus gebracht werden, wo eine Rot-Kreuz-Station eingerichtet
war. Für Werner Breit kam diese Hilfe zu spät. Er erlag seinen Verletzungen.
Durch diese tragischen Ereignisse hatten Gertrud Ritter und ihre Familie es
versäumt, sich wie die meisten anderen Nachbarn im Meckinghovener Kloster in
Sicherheit zu bringen. „Wir saßen im Keller auf Sauerkraut und Bohnenfässern,
als mein Vater plötzlich Stimmen hörte“, erinnert sich Gertrud Ritter. Ein
amerikanischer Soldat mit dem Gewehr im Anschlag stand plötzlich vor ihnen.
Nach einer Schrecksekunde stellte sich aber heraus, dass der Soldat ein wenig
Deutsch sprach und fragte, warum sie noch hier wären. „Alle anderen Nachbarn
waren schon weg“, so Gertrud Ritter. Dann folgte ein abenteuerlicher Weg zum
Kloster. „Die Eisenbahnbrücke gab’s nicht mehr. Wir mussten den Hang hinunter
rutschen.“ Außerdem war noch immer Kanonendonner zu hören. Im Kloster
herrschte drangvolle Enge. „Alle Kellerräume, alle Zimmer waren besetzt“,
erinnert sich Gertrud Ritter.
Und noch etwas fällt ihr im Zusammenhang mit den letzten Kriegstagen in
Datteln ein..Der Kanal war hart umkämpft, es gab viele Tote. Im Vorgarten der
Friedenskirche wurden zwölf deutsche und amerikanische Soldaten beerdigt.
Später wurden sie von den Angehörigen in die Heimat geholt.
So war es Ostern vor 70 Jahren. „Das kann sich heute niemand mehr vorstellen“,
sagt Gertrud Ritter.
Theo Beckmann, Nachfolger von Gertrud Ritter als Vorsitzender des
Heimatvereins, hat die Geschehnisse der letzten Kriegstage nicht selbst
erlebt, aber im Rahmen der VHS-Geschichtswerkstatt zusammen mit anderen
Dattelnern aufbereitet. „Für mich war der 2. April ein Tag der Befreiung und
nicht der Besatzung“, sagt er. Der pensionierte Geschichtslehrer möchte sich
auch mit den Geschehnissen im Frühjahr 1945 weiterbeschäftigen. In fünf
Jahren, 75 Jahre nach Kriegsende, wird der Heimatverein ein Sonderheft zu
diesem Thema herausbringen, verspricht Beckmann.
Schüsse im Beisenkamp
Die Amerikaner rückten von Haltern ins Ostvest vor. Am 1. April (Ostersonntag)
erreichten sie Oer-Erkenschwick, machten an der Stadtgrenze zu Datteln halt.
Am Ostermontag (2. April) zogen sie ohne Straßenkämpfe und ohne Widerstand der
deutschen Truppen in Datteln ein. Um den Weitermarsch aufzuhalten, hatten die
Deutschen noch am 1. April alle Brücken gesprengt, die über die Kanäle
führten. Probleme gab’s beim Einmarsch der Amerikaner in die Beisenkamp-
Siedlung. Dort fielen Schüsse. Die Amerikaner vermuteten Widerstand, zogen die
Kolonie leer. Die Männer wurden zur Überprüfung in die Lohschule gebracht,
Frauen und Kinder kamen in den Stollen von Schacht 3/4. Es dauerte einige
Zeit, bis sie wieder in ihre Häuser konnten. In der darauffolgenden Zeit
galten in der Stadt Ausgangssperren, nach 18 Uhr durfte niemand mehr auf die
Straße.
zum Artikel bei der Dattelner Morgenpost